Kindheit in der Dichtung von Heinrich Heine und Johann Wolfgang von Goethe

Fotocollage erstellt mit Canva Pro, Fotos der Dichterhäuser von SP, Porträts gemeinfrei auf Wikepedia: Charlotte, Heinrich Heine, Cornelia, Johann Wolfgang von Goethe (von oben nach unten)

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, das Frankfurter Goethe-Haus und den Neubau des Deutschen Romantik-Museums zu besuchen, der am 14. September 2021 eröffnet wurde. Der neu gestaltete Eingangsbereich gleicht einem hohen Sakralraum. Im Hintergrund des Kassenbereichs türmt sich eine ebenso hohe Bücherwand mit echten Büchern auf, die der Besucher durch ein Fernglas betrachten kann. Goethes Elternhaus erreicht man über einen Weg im Freien, vorbei an einem kleinen Dichtergärtchen.

Die aktuelle Sonderausstellung zog mich magnetisch an, denn mein neues Buch, das gerade entsteht, und der bevorstehende Heinrich-Heine-Adventskalender, sind ja der Kindheit und Jugend Heinrich Heines gewidmet und so lag es nahe, dass ich mich auch in die Kindheit von Johann Wolfgang von Goethe einfühlte.

Links vom Kassenbereich gelangte ich ins Untergeschoss, wo sich der Wechselausstellungsbereich befindet. Unter dem Titel „Die Natur will, dass Kinder Kinder sind. Kindheit im Wandel: Von der Aufklärung zur Romantik“ zeigt das Freie Deutsche Hochstift noch bis zum 21. Januar 2024 eine interessante Ausstellung, die ähnlich einem Spielbrett aufgebaut ist und unter anderem Kinderspielzeug aus der Goethezeit zeigt.

Diese Ausstellung hat mich dazu inspiriert, einen Essay über die Kindheit der zwei größten deutschen Dichter zu schreiben: Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine. Dabei sind mir nicht nur Parallelen im Selbstverständnis dieser doch so unterschiedlichen Familiengeschichten aufgefallen, sondern auch markante Unterschiede, die sich erstaunlicherweise in der Geschwisterbeziehung bemerkbar machen.

1. Dichtung und Wahrheit: Das literarische Elternhaus bei Heine und Goethe

Animiert durch den Goethekult des Berliner Literaturkreises um Rahel Varnhagen musste sich der junge Heine, ob er wollte oder nicht, mit dem bedeutendsten Dichter und Schriftsteller seiner Zeit auseinandersetzen: Johann Wolfgang von Goethe.

Und so spiegelt sich in Heines Werk der Goethesche Kosmos bis in die späten Memoiren wider. Heine erwähnt dort Goethes Darstellung seiner Kindheit und Familie im Zusammenhang mit der Kritik an seiner eigenen Darstellung, er habe stets mehr über seine mütterliche und weniger über seine väterliche Familie berichtet, während es bei Goethe umgekehrt gewesen sei.

„Es ist freylich wahr, daß in dessen Memoiren sehr oft von dem Großvater von väterlicher Seite, welcher als gestrenger Herr Schultheiß auf dem Römer zu Frankfurt präsidirte, mit besonderem Behagen die Rede ist, während der Großvater von mütterlicher Seite, der als ehrsames Flickschneiderlein auf der Bockenheimer Gasse auf dem Werktisch hockte und die alten Hosen der Republik ausbesserte, mit keinem Worte erwähnt wird.“

Heinrich Heine: Memoiren, DHA 15: 74

Heines Beschreibung entspricht nicht ganz den heute bekannten Tatsachen. Das besagte „Flickschneiderlein“ war ein Schneidermeister aus Thüringen, der zu großem Reichtum gekommen war, so dass Goethes Vater allein von seinem Vermögen leben konnte, während der Großvater mütterlicherseits als Stadtschultheiß von Frankfurt das Amt bekleidete, das Goethes Vater so sehr anstrebte und doch nie erreichte. Umso mehr verlegte er sich auf die Erziehung seiner beiden Kinder. Er richtete das Wohnhaus in repräsentativer Weise ein und besaß eine große Bibliothek. Goethes Mutter hingegen war eine begnadete Geschichtenerzählerin und faszinierte den kleinen Wolfgang mit ihren Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) wurde als erster Sohn der Eheleute Catharina Elisabeth, geb. Textor und Johann Casper Goethe geboren. Ein Jahr nach ihm wurde seine Schwester Cornelia Friederica Christiana Goethe (1750-1777) geboren, verheiratete Schlosser. Die anderen Kinder starben früh. Über sein Elternhaus dichtete Johann Wolfgang von Goethe wie folgt:

Vom Vater hab ich die Statur,

Des Lebens ernstes Führen,

Vom Mütterchen die Frohnatur

Und Lust zu fabulieren.


Johann Wolfgang von Goethe

Heinrich Heine (um 1797-1856) war der älteste Sohn des Tuch- und Manufakturwarenhändlers Samson Heine, der aus einer streng gläubigen Familie in Hannover stammte, und seiner in Düsseldorf geborenen Frau Betty, geb. Peira van Geldern, die mit der Heirat auch ihren Vornamen änderte. Während Heine von seinen Großeltern väterlicherseits nur wenig wusste und von seiner Großmutter Mathe Eva nur ein Porträt kannte, war ihm die Familiengeschichte der alteingesessenen Düsseldorfer Familie van Geldern allgegenwärtig. Der Großvater mütterlicherseits war der angesehene Arzt Gottschalk van Geldern, der lange vor Heines Geburt unerwartet starb. Die Großmutter war bereits einige Jahre, nachdem Peira geboren wurde, verstorben.

Heines literarische Verarbeitung seines Elternhauses ist ein umgekehrtes Spiegelbild des Goetheschen. Während die Mutter Betty in Erziehungsfragen den Ton angab, wird der Vater Samson als großes Kind gezeichnet, der seine kaufmännische Tätigkeit nur hinter vorgehaltener Maske ernst nimmt, in Wirklichkeit aber verspielt: „Eine grenzenlose Lebenslust war ein Hauptzug im Charakter meines Vaters. Er war genußsüchtig, frohsinnig, in seinem Gemüthe war beständig Kirmeß (…).“ Betty dagegen ist eine energische Frau, die sich ganz dem Zeitgeist der Aufklärung verschrieben hatte und eine innige Beziehung zu ihren Kindern pflegte: „Sie war eine Schülerinn Rousseaus, hatte dessen Emile gelesen, säugte selbst ihre Kinder, und Erziehungswesen war ihr Steckenpferd.“

Dass Betty ihre Kinder stillte, war in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit, was in der genannten Sonderausstellung am Beispiel von Clemens Brentano und Sophie de La Roche deutlich wurde. Mutter und Kind wurden oft getrennt und entwickelten keine enge Bindung zueinander. Das Stillen wurde von den Ärzten teilweise als schädlich dargestellt und war sicherlich auch eine Ursache für den frühen Säuglingstod, da den Kleinkindern somit wichtige Nährstoffe aus der Muttermilch fehlten.

2. Die Schwestern großer Dichter: Einblicke in das Frauenbild von Heine und Goethe

Eine interessante Parallele zwischen den Familien Heine und Goethe ist die umfassende und großbürgerliche Ausbildung der Kinder. Bei Goethe resultierte sie aus dem Privatvermögen seines Vaters Johann Casper und der hohen Stellung seiner Vorfahren mütterlicherseits. Auch die jüdische Familie van Geldern war in Düsseldorf hoch angesehen und zeitweise sehr wohlhabend, so dass eine vielseitige Erziehung zum guten Ton gehörte.

Bei Goethes wurden beide Kinder gemeinsam erzogen, so dass sowohl Johann Wolfgang Goethe als auch seine Schwester bestens ausgebildet und intellektuell auf Augenhöhe waren. Die Erziehung war sehr umfassend und reichte von Fremdsprachen wie Latein, Griechisch, Französisch, Englisch und Italienisch über Jura, Geographie, Mathematik und Kalligraphie bis hin zu Reiten und Fechten, Cellospiel für Wolfgang und Gesangs- und Klavierunterricht für Cornelia.

Wie ihr 15 Monate älterer Bruder hätte Cornelia Goethe das Zeug zu einer großen Schriftstellerin gehabt. Allein das traditionelle Frauenbild ließ es nicht zu, dass sie sich ihrem Naturell und Talent entsprechend entfalten konnte. Zum einen war sie für den Haushalt zwar nicht ausgebildet und wurde von ihrem Vater ehrgeizig gefördert, aber nur, um sie in geselligen Kreisen vorzuführen. Die Rechnung ging jedoch nicht auf, denn da sie z.B. ihre musikalischen Fähigkeiten unter dem Druck des Vaters erwarb, baute sie unbewusst eine innerliche Blockade auf und versagte beim Vorspielen. Andererseits bekam sie auch von ihrem Bruder, mit dem sie in der Kindheit auf Augenhöhe diskutieren und reden konnte, nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Cornelia bemerkte, wie sich Goethes Frauenbild während des Studiums in Leipzig ins Patriarchalische wandelte. Späterhin schaute er aus dem fernen Weimar nur herablassend auf sie und wollte sie ebenfalls klein halten – vielleicht aus Neid oder Konkurrenzdenken? Ihre Schriften verbrannte er später!

Cornelia stand allein auf weiter Flur und versuchte, durch Heirat dem Erziehungsterror ihres Vaters zu entkommen und sich zu emanzipieren. Doch obwohl ihr Mann aus dem literarischen Kreis der Empfindsamkeit kam, war auch sein Frauenbild sehr traditionell und er wünschte sich eher eine folgsame Hausfrau als eine geniale Schriftstellerin. Cornelias Psyche reagierte mit schweren Depressionen, so dass sie sich nicht einmal um ihre erstgeborene Tochter kümmern konnte. Vier Wochen nach der Geburt ihrer zweiten Tochter starb sie sogar! Ein kurzes Leben und doch eine Nachkommenschaft, die bis heute noch Nachfahren hervorbringt – ganz im Gegensatz zu ihrem berühmten Bruder, dessen letzter Erbe bereits 1885 aus dem Leben schied.

Wie anders war dagegen das Verhältnis von Heinrich Heine zu seiner Schwester! Auch im Hause Heine wurden alle Kinder – Harry, Charlotte, Gustav und Maximilian – bestens erzogen und gefördert. Harry lernte zeitweise Violine und seine Schwester Charlotte (um 1800-1899) erhielt Musikunterricht bei dem Düsseldorfer Musikdirektor August Friedrich Burgmüller. Sie verfügte über eine schöne Singstimme, die ihr vor allem in Lüneburg den Weg in die bürgerliche Gesellschaft ebnete. Zwar führte auch sie ab 1823 ein traditionelles Hausfrauendasein, verstand es aber, ihren Witz und eine gewisse unkonventionelle Umgangsform so einflussreich einzubringen, dass selbst die Briefe ihrer Töchter von der Lebendigkeit, Heiterkeit und charmanten Frechheit zeugten, die im Hause herrschte.

Ihr älterer Bruder Heinrich betrachtete Charlotte stets als gleichwertige Briefpartnerin, an deren geistreichen Briefen er sich stets erfreute und der er eine innige, bisweilen erotische Zuneigung entgegenbrachte. Ihr geselliges Wesen und ihr vielseitiges Interesse an den schönen Künsten lebte sie in ihrem Hamburger Salon aus, der seit Ende der 1840er Jahre regen Zuspruch fand und den sie bis ins hohe Alter führte. Nach dem Tod ihres berühmten Bruders wuchs sie immer mehr in die Rolle der Schwester Heinrich Heines hinein und war schließlich die letzte Zeitzeugin, die sogar von der Heine-Verehrerin Sisi besucht wurde. Sie starb 1899 hochbetagt.

3. Kulturtipp

„Die Natur will, dass Kinder Kinder sind. Kindheit im Wandel: Von der Aufklärung zur Romantik“, Sonderausstellung vom 27. Oktober 2023 bis 21. Januar 2024 im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt

4. Literaturangaben

https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe

https://de.wikipedia.org/wiki/Charlotte_Embden

Dr. Gerlinde Kraus: Cornelia Goethe – Ein typisches Frauenleben im 18. Jahrhundert? Vortrag auf dem YouTube-Kanal der Edition H. Schroeder e.K. vom 26. August 2018

Heinrich Heine war in Düsseldorf zuhause.

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