„Meine Krämpfe sollt ihr haben“: Das Rätsel um Heinrich Heines Krankheit

Heine-Porträt von Bert Gerresheim (Foto: SP)

Das Rätsel um die Krankheit Heinrich Heines beschäftigt seit über 60 Jahren eine Vielzahl von Fachärzten und Medizinhistorikern. Die Diagnosen reichen von einer erblichen Erkrankung des zentralen Nervensystems über Multiple Sklerose, Tuberkulose mit Rückenmarks- und Hirnhautentzündung, einer besonderen Verlaufsform der Syphilis bis hin zu einer Bleivergiftung, die durch Haaruntersuchungen nachgewiesen werden konnte. Die Augenärzte Professor Guido Kluxen und Ronald D. Geste haben sich im Heine-Jahrbuch 2019 mit einer weiteren Diagnose beschäftigt, die bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Lesen Sie hier einen spannenden Beitrag über Heines Krankheitsverlauf anlässlich seines 166. Todestages.

1. Augenärzte versus Neurologen

Sie berufen sich auf eine Veröffentlichung des französischen Augenarztes Pierre Amalric (1923-1999) aus dem Heine-Jahr 1997. Dieser wertete die Beschreibung der Symptomatik von Heinrich Heines Augenarzt Julius Sichel aus und publizierte seine Erkenntnisse in französischer Sprache (posthum 2015 auch in englisch). Seine Diagnose lautete: Myasthenia gravis, eine Autoimmunerkrankung mit „wechselnd ausgeprägter Muskelschwäche“, die sich zunächst als Lidmuskelschwäche und später in Lähmungserscheinungen äußert und ausgesprochen schwierig zu diagnostizieren ist.

Myasthenie war zu Heines Zeiten noch unbekannt. Die typischen Symptome dieser Erkrankung wurden erst um 1900 geklärt. Seit 1960 ist Myasthenie als Autoimmunerkrankung medizinisch vollständig erfasst. Die Unsicherheiten in Bezug auf Leiden und Krankheit von Heinrich Heine sind vor allem auf fehlende pathologische Befunde zurückzuführen. Für Heine kamen sowohl Autopsie als auch Abnahme einer Totenmaske nach seinem Ableben nicht in Frage. Letztere wurde dennoch gegen seinen Willen angefertigt und ist heute nebst Abgüssen im Heine-Institut archiviert. Heines Krankheitsverlauf ermöglicht überdies mehrdeutige Interpretationen, besonders im Bezug auf seine Augensymptomatik.

Die Autoren weisen explizit auf diese unterschiedlichen Deutungen hin. So diagnostizierte der Neurologe Roland Schiffter Heines Krankheit als Neurosyphilis und publizierte dazu im Heine-Schumann-Jahr 2006. Neurosyphilis bezeichnet einen Zustand, der 10-20 Jahre nach der eigentlichen Syphilisinfektion auftreten kann. Die Syphilis kann in diesem Stadium mit einer Hirnhautentzündung einhergehen. Heines Gehirnleistungen waren jedoch zeitlebens unbeeinträchtigt. Schiffters geht somit von chronischen, syphilitischen Entzündungen der Hirn- und Rückenmarksnerven aus, die sich über einen Zeitraum von 25 Jahren hinzogen. Seine Diagnose „Lues ceresbrospinalis“ wurde bereits in der sechziger Jahren durch den Neurologen Arthur Stern gestellt. Dagegen schließen die Augenärzte Kluxen/Geste die Syphilis als Todesursache eher aus und interpretieren die Augensymptomatik im Rahmen der Diagnose Myasthenie.

2. Heines Symptome

Der Gesundheitszustand des Dichters war bereits zur Studienzeit immer wieder angegriffen. Ihn plagten anhaltende Kopfschmerzattacken. Jan-Christoph Hauschild und Michael Werner beschreiben Heines Zustand wie folgt: „Seine neurastenische Konstitution machte ihn außerordentlich sensibel, reizbar und geräuschempfindlich und erzeugte häufig depressiv-hypochondrische Stimmungen, die sich im konstanten Gefühl von Vereinsamung manifestierten.“ (Hauschild/Werner, S. 543)

In Göttingen infizierte sich Heine nachweislich mit einer Geschlechtskrankheit und erhielt Kur- und Heilbäder. Allerdings konnte damals noch nicht zwischen Syphilis und Gonorrhoe unterschieden werden. Auch sind die damaligen typischen Behandlungen der Syphilisinfektion bei Heine nicht nachweisbar.

1832 zeigte sich eine vorübergehende Lähmungserscheinung an der linken Hand. 1833 erlitt Heine durch eine Art Schlaganfall eine Oculomotorius-Lähmung, d.i. den Augenmuskelnerv betreffend, auf der rechten Seite. Sein Augenarzt Sichel veröffentlichte Heines Symptome 1837 in einer Fachzeitschrift und diagnostierte eine beidseitige Lidmuskelschwäche (Ptosis). Das bedeutete, das Heine nicht in der Lage war, die Augenlider offen zu halten. Dies hat der Grafiker Charles Gleyre auf seinem Heine-Porträt von Jahr 1851 bildlich fesgehalten.

Heines Sehsinn blieb jedoch unbeeinträchtigt, wenngleich er Doppelbilder hatte, die sich auch nach Besserung der Beschwerden fortsetzten. Einer weithin angenommenen Erblindung des Dichters in der Matratzengruft widersprechen die Autoren. Zum Sehen und Lesen musste er seine Augenlider anheben. Heine war allgemein kurzsichtig; der Leseabstand war auch in der Spätzeit normal.

1837 folgte ein weiterer Krankheitsschub, der deutlich schlimmer war und den linken Oberarm lähmte. Zwei Jahre später herrschte wieder Beschwerdefreiheit, wenn auch seine Gesichtsmuskulatur durch eine leichte Faszialisparese erstarrt war. 1844 und 1846 folgten weitere Krankheitsschübe, deren Symptome sich nicht besserten.

Ab 1847 kamen Lähmungen in Beinen und Unterleib hinzu. Die Ptosis zeigte sich erneut beidseitig, wobei sie links stärker war als rechts. Ende Mai 1848 begann schließlich Heines Bettlägerigkeit in der von ihm so bezeichneten Matratzengruft, die bis zu seinem Tod am 17. Februar 1856 anhielt. Darüber hinaus litt er in diesen 8 Jahren unter schweren Krämpfen und Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, Leibschmerzen (Koliken), Kau- und Schluckbeschwerden. Sein Körper zehrte immer mehr aus und krümmte sich. Die verordneten Morphine verabreichte er sich zunehmend selbst und es kam zum Opium-Abusus. Damals war die abhängig machende Wirkung noch nicht geklärt.

3. Conclusio

Kluxen und Geste ziehen anhand des reversiblen Krankheitverlaufs und der vorhanden Symptome den Schluss, dass eine Myasthenia gravis (pseudoparalytica) vorlag. Ihrer Ansicht nach wurde das Auftreten, Verschwinden und Wiederauftreten neuro-motorischer Ausfälle über einen Zeitraum von 24 Jahren noch zu wenig beachtet. Das Hauptsymptom sei die doppelseitige Ptosis mit Oculomotorius-Parese. Gleichwohl halten sich die Autoren die Möglichkeit einer anderweitigen neuroophthalmologische Erkrankung offen. Myasthenie ist nur ein Oberbegriff, dem verschiedene Krankheitsbilder zugeordnet werden. Heines Krankheit ist somit wieder ein Stückchen mehr enträtselt und es sind wertvolle, neue Aspekte hinzugekommen. Endgültig klären lässt sie sich allerdings wohl nicht.

In seinem Fluchgedicht „Vermächtniß“ vererbt Heine die Symptome seinen Feinden. Es ist das vorletzte Gedichte aus dem Lamentationen-Zyklus des Romanzero-Gedichtbands von 1851.

Vermächtniß.

Nun mein Leben geht zu End‘,
Mach‘ ich auch mein Testament;
Christlich will ich drin bedenken
Meine Feinde mit Geschenken.

Diese würd’gen, tugendfesten
Widersacher sollen erben
All mein Siechthum und Verderben,
Meine sämmtlichen Gebresten.

Ich vermach‘ Euch die Coliken,
Die den Bauch wie Zangen zwicken,
Harnbeschwerden, die perfiden
Preußischen Hämorrhoiden.

Meine Krämpfe sollt Ihr haben,
Speichelfluß und Gliederzucken,
Knochendarre in dem Rucken,
Lauter schöne Gottesgaben.

Codizill zu dem Vermächtniß:
In Vergessenheit versenken
Soll der Herr Eu’r Angedenken,
Er vertilge Eu’r Gedächtniß.

DHA 3/1: 120f.

4. Literatur zum Weiterlesen

Guido Kluxen/Ronald D. Geste: Heinrich Heines Krankheit – war es eine Myasthenie? In: Heine-Jahrbuch 2019, S 72-83.

Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“. Heinrich Heine. Eine Biographie, Köln 1997.

Heinrich Heine war in Düsseldorf zuhause.

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