Über Krankheit und Kreativität: Vexiergesicht Heinrich Heine – Avenue Matignon 3

Vexiergesicht aus Bronze von Bert Gerresheim – Vorstudie zum „Fragemal“. Foto: SP

51cm hoch ist die Büste »Vexiergesicht Heinrich Heine – Avenue Matignon 3«. Bert Gerresheim schuf sie 1978 in der ersten Entwurfsphase für sein geplantes Heinrich-Heine-Denkmal in Düsseldorf, das dann doch eher ein „Fragemal“ wurde. In diesem Beitrag zum 85. Geburtstag des Bildhauers möchte ich Ihnen die Büste näher vorstellen und Ihnen die Entstehungsgeschichte des Heinrich-Heine-Denkmals aufzeigen.

In seiner Heine-Interpretation folgte Bert Gerresheim der Einschätzung des Journalistes Fritz J. Raddatz (1931-2015). Dieser veröffentlichte 1977 einen Essay »Heine. Ein deutsches Märchen«. Über den Dichter schrieb er: »Heinrich Heine ist ein Plural (…) eine Vexier-Anthologie ließe sich zusammenstellen aus den widersprüchlichsten Zeugenaussagen.« Bert Gerresheim fand hierin den Anker, um Heinrich Heines Totenmaske mithilfe seiner Vexiermethode zu bearbeiten. Er stellt die Totenmaske als einziges authentisches Bildnis des Dichters in den Mittelpunkt seines »Fragemals«.

1. Gerresheims Studie nach der Totenmaske von Heinrich Heine

In seiner plastischen Vorstudie des Vexiergesichts dynamisierte Bert Gerresheim Heines Gesicht, um an die mehrdeutige Gestalt des Dichters heranzukommen. Das Vexieren erzeugt eine Bewegtheit der Physiognomie, die aus Verdoppelungen und Verdreifachungen von Augen, Nase, Mund und Bart besteht. Gerresheim schuf damit die formale Voraussetzung für Heines Mehrdeutigkeit.

An Heines Kopf verdoppelt sich zunächst die Mundpartie mitsamt des Schnauz- und Kinnbartes. Neben die Nase tritt zusätzlich eine nach oben versetzte Bartpartie und eine zweite Nase schiebt sich noch höher. Dann erst ist das Gesicht auf Höhe der Augen angekommen. Aus dem linken Auge ergibt sich sodann ein zweites und fällt mitsamt eines Teils der Stirn zur linken Wange ab. Gleichzeitig setzt sich die ansteigende Bewegung von Mundpartie und Nase in die Stirn fort und provoziert dort einen langen, fingerbreiten Riss. Damit ist eine Serie von Auffächerungen und Versetzungen an ihr Ende gelangt und weist in einen anderen Zustand, in eine andere Wirklichkeit hinüber.

2. Heinrich Heines paradoxe Krankheitssituation in Bronze gegossen

Der Aufbau der Büste verläuft über eine Geschlossenheit im Brust- und Schulterbereich zur Offenheit im Kopfbereich. Der Dichter Heine wird auf dem Krankenlager vorgestellt, mit einem Hemd bekleidet und die Brust mit einer Bettdecke umhüllt. Aus der Decke kommt ein Riemen zum Vorschein und es sind auch Verschnürungen angedeutet, die den Dichter ans Bett fesseln. Dieser Fesselung wirkt die Mehrgesichtigkeit des Kopfes entgegen und erinnert an den unermüdlichen Arbeitseifer und klaren Geisteszustand des Todkranken, der bis in seine späten Krankheitsjahre hinein an Gedichtbänden, autobiographischen Schriften sowie an seiner französischen Gesamtausgabe bei Michel Lévy, erschienen 1855, arbeitete.

Somit beschreibt die Büste die paradoxe Situation des Krankenlagers, die Heine im »Lazarus-Zyklus« der »Gedichte. 1853 und 1854« offen darlegt. Zum einen ist er durch die körperliche Lähmung an das Bett gebunden und zum anderen findet er im poetischen Schaffen eine letzte Bastion geistiger Freiheit und Vitalität. Diesen Aspekt hat Bert Gerresheim als aufmerksamer Leser im siebenten Band seiner Heine-Ausgabe von Klaus Briegleb notiert: »krankheit – gestaltung / die kulturkonstituierende kraft des mankos«. Es war der Text der »Schöpfungslieder« aus den »Neuen Gedichten«, in denen Heinrich Heine den Schöpfer der Welt zu Wort kommen lässt. In sieben Abschnitten, die den sieben Schöpfungstagen entsprechen, bekennt sich Gott zu seinem Schaffensdrang:

Warum ich eigentlich erschuf

Die Welt, ich will es gern bekennen:

Ich fühlte in der Seele brennen

Wie Flammenwahnsinn, den Beruf. /

Krankheit ist wohl der letzte Grund

Des ganzen Schöpfungsdrangs gewesen;

Erschaffend konnte ich genesen,

Erschaffend wurde ich gesund.

Heinrich Heine: Schöpfungslieder

Diesen letzten und siebten Abschnitt fügte Heine übrigens erst 1852 anlässlich der dritten Auflage der „Neuen Gedichte“ hinzu, zu einer Zeit, als er bereits vier Jahre in seiner „Matratzengruft“ lag. Heine gibt damit ein beredtes Zeugnis seines eigenen Schöpftungsgrunds ab.

3. Schöpfungslieder: Heines dichterisches Selbstverständnis

Das Gedicht lässt sich somit auf Heines eigenes dichterisches Selbstverständnis beziehen. Er schuf aus der Krankheit heraus einen neuen, ungewöhnlichen Ton, wodurch ihn seinen Zeitgenossen schlecht einordnen konnten. Gerne hätten sie von einer Bekehrung des Freigeistes gesprochen, doch Heine ließ sich nicht vereinnahmen. Er entschied sich für einen ganz persönlichen Gott, der ihm unvermittelt zur Seite stand und mit dem er sich in seiner misslichen Lage auseinandersetzen konnte. Es entstand ein produktives Verhältnis, das Heines Kreativität anregte und sich in seinen späten Gedichten selbstbewusst ausspricht.

4. Mein Tipp: Weitere Interpretationen zum Heinrich-Heine-Denkmal von Bert Gerresheim

Weitere Interpretationen und Vorarbeiten zum Heinrich-Heine-Monument habe ich in meinem Buch Simone Pohlandt (2016). Die Heinrich-Heine-Denkmäler von Bert Gerresheim. Düsseldorf: Grupello Verlag zusammengestellt und interpretiert. Es erschien zum 80. Geburtstag des Düsseldorfer Künstlers Bert Gerresheim. Jetzt bestellen!

Simone Pohlandt, Buch 2016

Heinrich Heine war in Düsseldorf zuhause.

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