Kavalier und frommer Pilger: Zum 300. Geburtstag des Morgenländers Simon van Geldern
Foto: Europakarte nach: Bacon, G. W, and Weber Costello Company. Bacon’s standard map of Europe. [S.l.: Weber Costello Co., ?, 1925] Map. https://www.loc.gov/item/2006629791/.
Kavalier und frommer Pilger – ein Leben zwischen zwei Welten. Heinrich Heines Großonkel Simon van Geldern gehörte wie Casanova und Cagliostro zu den Abenteurern und Scharlatanen des 18. Jahrhunderts. Er bereiste ganz Europa und den Vorderen Orient und wurde deshalb der „Morgenländer“ genannt. Doktortitel und Adelsdiplom verlieh er sich selbst. Als Chevalier de Gueldres führte er sich in den europäischen Hochadel ein und verstand es, durch orientalische Kleidung und geistreiche Plaudereien die Damenwelt zu bezaubern. Heute vor 300 Jahren wurde er am 12. November 1720 in Wien geboren und wuchs in Düsseldorf auf.
1. Das Doppelleben von Heinrich Heines Großonkel Simon van Geldern
Sein Leben war unstet. Im Alter von 27 Jahren verließ Simon van Geldern nach einer Auseinandersetzung mit seinem Vater Lazarus van Geldern das Elternhaus in Düsseldorf und kehrte nur für kurze Besuche dorthin zurück. Statt Kaufmann wollte er vielmehr Gesandter werden, Konsul oder Diplomat, jedenfalls viel reisen und das Leben genießen.
Als jüdischer Pilger bereiste er Palästina und machte zweimal in Safed Station, dem Mittelpunkt der jüdischen Mystik. Dort ließ er sich von den örtlichen Rabbinern schriftlich bestätigen, dass er sich mit großem Eifer dem Studium der heiligen Lehre gewidmet habe. Mit diesen Bescheinigungen sammelte er in sämtlichen jüdischen Gemeinden Europas fleißig Spendengelder und konnte sich so die Lebenshaltungskosten eines echten Kavaliers leisten. In jeder Stadt besuchte er mehr als nur eine liebenswürdige Dame. Seine Spielsucht brachte ihn mehrmals in finanzielle Nöte.
2. Ein arabischer Gast bei Voltaire
Simon van Geldern war sehr gebildet und schätzte die Autoren der französischen Aufklärung, da sie für eine freiheitliche Gesellschaft eintraten – vor allem Montesquieu und Voltaire, deren Bücher er auch verkaufte. Die „Perserbriefe“ von Montesquieu hatten die Begeisterung für den Orient zur Manie getrieben, die auch der „Morgenländer“ durch seine orientalischen Gewänder bediente und dadurch faszinierte, ja blendete. Bei seinem Geisteshelden Voltaire, dem Vorkämpfer für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, führte er sich als arabischer Gast aus Syrien ein und verlebte einige unbeschwerte Tage auf dessen Landsitz „Les Délices“ am Rande der Stadtrepublik Genf.
3. Beitrag zur Emanzipation der Juden
Am Ende seines Lebens leistete Heines Großonkel als Ghostwriter und Berater des französischen Politikers Abbé Grégoire selbst einen wichtigen Beitrag für die aufklärerische Sache. Das Ergebnis: eine 260 Seiten umfassende „Studie über die körperliche, moralische und politische Regeneration der Juden“, die den Grundstein für die Judenemanzipation in Frankreich legte. Ludwig XVI. unterzeichnete am 13. November 1791 das Emanzipationsdekret und der „Code Civil“ von Napoleon trug die bürgerliche Gleichstellung von Christen und Juden durch ganz Europa. Die positive Wirkung seiner Arbeit erlebte Simon van Geldern jedoch nicht mehr. Er verstarb im September 1788. Seine Grabstätte ist unbekannt.
4. Der junge Heine war mehr als fasziniert
Heinrich Heine fand das Tagebuch seines Großonkels Simon van Geldern auf dem Dachboden seines gleichnamigen Onkels in Düsseldorfs. Jener Simon van Geldern war der Bruder seiner Mutter und unterstützte den jungen Dichter bei seinen ersten Schreibversuchen. Bei meinen Heinrich-Heine-Führungen kommen wir an diesem Haus vorbei. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut.
Heine selbst wusste nichts von dem bahnbrechenden Beitrag seines verstorbenen Großonkels zur Emanzipation der Juden, für die er sich später als politischer Schriftsteller einsetze, aber er spürte die eigentümliche Bedeutung dieses Mannes:
Eine rätselhafte Erscheinung, schwer zu begreifen, war dieser Großoheim (…) er war halb Schwärmer, der für kosmopolitische, weltbeglückende Utopien Propaganda machte, halb Glücksritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die morschen Schranken einer morschen Gesellschaft durchbricht oder überspringt. Jedenfalls war er ganz ein Mensch.
Memoiren-Fragment
Über ein Jahr lang träumte sich Heine in die Abenteuer des „Morgenländers“ hinein, sodass „es mir vorkam, als sei ich selbst mein seliger Großoheim und als lebte ich nur eine Fortsetzung des Lebens jenes Längstverstorbenen!“
In gewisser Weise setzte Heine das Lebenswerk seines Großonkels tatsächlich fort, und jener hatte ihm in Düsseldorf den Boden bereitet. Die neuen bürgerlichen Freiheiten im „Code Civil“ waren ein posthumes Geschenk des Vorfahren an den Großneffen, der mit seinem schriftstellerischen Werk für die Ideale der Französischen Revolution eintreten sollte.
5. Zum Weiterlesen
Ludwig Rosenthal: Heinrich Heines Großoheim Simon van Geldern. Ein historischer Bericht mit dem bisher meist unveröffentlichten Quellenmaterial, Kastellaun 1978. (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts)
Der Wissenschaftsjournalist Hakan Baykal schrieb 2023 einen interessanten Beitrag zum 235. Todestag von Simon van Geldern: Morgenländer, Schwärmer und sonderbarer Heiliger.
Heinrich Heine war in Düsseldorf zuhause.
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Simone Pohlandt
Autorin und Gästeführerin auf Heines Spuren
Als leidenschaftliche Heine-Leserin schreibe ich über meinen Lieblingsdichter Heinrich Heine und tauche tief in sein faszinierendes Leben und Werk ein. Auf meinen Heinrich-Heine-Touren führe ich die Besucher Düsseldorfs auf den Spuren Heinrich Heines durch die Altstadt und entführe sie in die Welt dieses außergewöhnlichen Dichters. Begleiten Sie mich auf eine literarische Reise durch Düsseldorf und entdecken Sie gemeinsam mit mir inspirierende Orte und Geschichten, die mit Heinrich Heine verbunden sind.